Liebe Schülerinnen und Schüler,
Interpretationsansätze zu Erpenbecks Roman „Heimsuchung“ auf wenig mehr als einer Seite zusammengefasst ist kaum möglich – auch nicht mit der Unterstützung der Sekundärliteratur. Die Interpretation ist eher in der Lektüre selbst versteckt. Vielleicht hilft uns diese Fragestellung weiter: Was will uns Erpenbeck vermitteln, wozu will sie uns anregen nachzudenken? Ich werde euch meine persönlichen Antworten darauf geben.
Zentral ist der Begriff „Heimat“. Ich wiederhole hier meinen Tipp: Fragt euch doch, am besten schriftlich, was ihr mit Heimat verbindet. Ich habe euch in Briefform meine ganz persönliche Antwort gegeben. Warum beschäftigt sich Erpenbeck so stark mit Menschen, die auf einer Parzelle am Scharmützelsee in einem Haus in dieser Intensität Heimat suchen, sie sich schaffen wollen und scheitern? Die Dichterin ist selbst eine Heimatlose, eine, über deren Gewissheiten die Geschichte hinwegging, die in der „unberechtigten Eigenbesitzerin“ noch einen Zipfel ihrer Kindheitsgewissheit festzuhalten versucht, mit dem sinnlosen Hausputz als Aktion nach außen hin loslässt, aber nicht loskommt und dies in einem teilweise autobiografischen Roman erneut und jetzt entschlossener anpackt.
Sie ist in der DDR, in Berlin aufgewachsen und mit der Wiedervereinigung gab es zunächst keinen Anschluss, sondern nur einen Neustart – für sie, aber auch für ihre Familie und ihre Großmutter, die zunächst flammend in Texten für den Sozialismus warb, dieser war aber in sich zusammengebrochen, sie war mit einem Schlag heimatlos. Erpenbecks Mutter verlor 1995 ihre Professur an der Universität – auch Heimatlosigkeit und Neustart.
„Heimat. Ein Haus die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung“ (S. 38, Penguin), so der Architekt kurz vor seiner Flucht in den Westen. Vielleicht ist nicht nur das Haus „Heimat“, sondern auch etwas, was man in sich trägt – bewusst oder unbewusst und was in einem in großer Intensität aufsteigt, wenn man dieser dritten „Heimathaut“ beraubt wird. Und genau dies geschieht mehreren Personen im Roman: der Schriftstellerin im sowjetischen Exil, „der Besucherin“ aus Masuren (heute zu Polen gehörend), die als Bäuerin in der Akademikerfamilie ihrer Enkelin gesichert ist, aber fremd bleibt, dem Juden Ludwig, der sich nach Kapstadt rettet, aber der alten Heimat mit ihren Bräuchen (Weihnachtsbaum) verhaftet lebt und ganz besonders Doris, dem jüdischen Mädchen, das sich in einer schwarzen, extrem engen Kammer im Warschauer Ghetto vor der SS versteckt, mutterseelenallein, alle sind schon abtransportiert und in seiner äußeren und inneren Dunkelheit lässt es die Buntheit seiner Kindheit am Scharmützelsee wieder aufblühen. „War dieser Junge noch da, wenn sie ihn nicht sah? War außer ihr noch irgendwer auf der Welt? Jetzt wird ihr klar, was sie die ganze Zeit nicht bedacht hat: Wenn niemand mehr weiß, daß sie da ist, wenn sie nicht mehr da ist, wer weiß dann von der Welt?“ (S. 89, Penguin). Doris riecht den vertrauten Geruch der Kiefern von ihrem Kinderglück – wenige Minuten, bevor sie erschossen wird. Erinnern, Erinnerung, der Schatz in uns in der Verlassenheit, wenn wir dem beraubt werden, was uns Identität schenkt, uns ausmacht, in den Todesminuten von Doris. Der Scharmützelsee – das Paradies, aus dem vertrieben ihm alle nachtrauern oder – wie Doris – in ihm Widerstandskraft finden.
Und mit Doris gibt es einen weiteren Schwerpunkt: die Erinnerung an jüdisches Leben am Scharmützelsee – in der Nachbarschaft, wovon Erpenbeck zunächst gar nichts wusste, worin sie sich dann aber vertiefte und einen literarischen „Stolperstein“ schuf: „Heimsuchung“. In diesem Roman tragen alle Mitglieder der jüdischen Familien Namen, was sie zu Individuen macht – im Gegensatz zu den meisten anderen, zum Beispiel „der Architekt“, „die Schriftstellerin“. Und in der Widmung des Romans steht: „Für Doris Kaplan“ und dieses Mädchen hat gelebt und wurde nur zwölf Jahre alt.
Neben allen Gescheiterten, Nachtrauernden, Heimatlosen gibt es eine Gegenfigur, die die Kontinuität der Natur repräsentiert – unabhängig von allen Vernichtungsstürmen der Geschichte, eine Gestalt, die in sich ruht, im Jahreszeitenwechsel lebt, schweigsam und gewissenhaft ihre Arbeit verrichtet – zum Wohle der Natur und der Menschen auf der Parzelle: den Gärtner. Er lebt bescheiden im Einklang mit sich, gleich einem Engel, der aus dem Nichts kommt, einem kleinen Fleckchen Erde zum Segen wird und ins Nichts verschwindet, woher er kommt, wohin er geht, bleibt im Roman offen, aber seine Form, dem Leben zu begegnen, spiegelt ein Ideal des bescheidenen Glücks – ein Fingerzeig der Dichterin, wie gelingendes Leben aussehen könnte.
Der Roman bietet so viel an Nachdenkenswertem, so viel Gesprächsstoff, dieser muss nur aus dem Sprachgeflecht einer Sprachvirtuosin destilliert werden, was nicht immer einfach ist, sich aber lohnt!
Klaus Schenck
Die Botschaft der Jenny Erpenbeck an ihre Leser – zusammengefasst an einem Haus am Obersee von Arosa:
Vier Antworten auf Heimat – aus Deutschland und der Schweiz (Graubünden):
- Klaus Schenck: „Heimat – gelebt, gesucht, gefunden“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/jenny-erpenbeck-heimsuchung-heimat-gelebt-gesucht-gefunden/
- „Das „Dreimaitlihaus“ von der Sunnenrüti – ein reales Heidi-Glück“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/das-dreimaitlihaus-von-der-sunnenrueti-ein-reales-heidi-glueck/
- „Landleben für Kinder in Litzirüti – Leben im Paradies vom Paradies“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/landleben-fuer-kinder-in-litzirueti-leben-im-paradies-vom-paradies/
- „Heimat bedeutet, sich festzulegen“ – „Heimat“ aus psychologischer Sicht: https://www.klausschenck.de/ks/downloads/f38-08-erpenbeck-heimsuchung-heimat-geo-wissen.pdf
Inhalt in Briefform (~ 1 Textseite): https://www.schuelerzeitung-tbb.de/jenny-erpenbeck-heimsuchung-inhalt-in-briefform/
Interpretation in Briefform (~ 1 Textseite): https://www.schuelerzeitung-tbb.de/jenny-erpenbeck-heimsuchung-interpretation-in-briefform/
Kostenloser Abi-Crash-Kurs zu Werken der Pflichtlektüre – die aktuellsten stehen ganz oben
- Jenny Erpenbeck: „Heimsuchung“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/jenny-erpenbeck-heimsuchung-kostenloser-deutsch-abi-crashkurs/
- Joseph von Eichendorff: „Das Marmorbild“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/joseph-von-eichendorff-das-marmorbild-kostenloser-deutsch-abi-crashkurs-fuers-muendliche/
- Th. Mann: „Mario und der Zauberer“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/th-mann-mario-und-der-zauberer-links-zu-sendungen-und-manuskripten-einstieg-interpretation-wiederholung-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- G. Büchner: „Woyzeck“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/g-buechner-woyzeck-links-zu-sendungen-und-manuskripten-einstieg-interpretation-wiederholung-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- J. Zeh: „Corpus Delicti“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/j-zeh-corpus-delicti-links-zu-sendungen-und-manuskripten-einstieg-interpretation-wiederholung-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- W. Koeppen: „Tauben im Gras“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/koeppen-werk-komplett-fertig-alle-sendungen-und-manuskripte-im-netz-heute-alles-durchgearbeitet-morgen-parat-fuer-klausur-d-abi/
- E.T.A. Hoffmann: „Der Sandmann“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/e-t-a-hoffmann-der-sandmann-links-zur-sendung-und-zum-manuskript-einstieg-und-ueberblick-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- J.W. v. Goethe: „Faust I“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/j-w-v-goethe-faust-i-links-zur-sendung-und-zu-schuelerarbeiten-einstieg-ueberblick-kreative-arbeiten-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- H. Hesse: „Der Steppenwolf“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/h-hesse-der-steppenwolf-links-zur-sendung-und-zu-materialien-einstieg-ueberblick-kreative-arbeiten-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- Th. Mann: „Felix Krull“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/th-mann-bekenntnisse-des-hochstaplers-felix-krull-links-zu-sendungen-und-manuskripten-einstieg-interpretation-wiederholung-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- F. Kafka: „Der Verschollene“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/f-kafka-der-verschollene-links-zu-sendungen-und-manuskripten-einstieg-interpretation-wiederholung-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- E.T.A. Hoffmann: „Der goldne Topf“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/e-t-a-hoffmann-der-goldne-topf-links-zu-sendungen-und-materialien-einstieg-ueberblick-kreatives-fit-fuer-klausur-deutsch-abi/
- H.-U. Treichel: „Der Verlorene“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/h-u-treichel-der-verlorene
Mein Schul-Resümee: Auf den Lehrer kommt es an!
Powertypen, resigniert nicht, ihr seid das Salz der Schule! Wenn dieses Salz fad wird, wovon soll die Schule leben, wovon die Schüler zehren – und wovon ihr selbst?
- Schülerwunsch: „Handyfreier Unterricht!“ (Schülerzeitungsartikel): https://www.schuelerzeitung-tbb.de/schuelerwunsch-handyfreier-unterricht/
- „Ich sprech‘ hinein in den Interessenstod“ – Lehrergedanken vor der Klasse (Grammatikarbeit): https://www.klausschenck.de/ks/downloads/g75-6-grammatikarbeit.pdf
- Motivierende Leistungsschule als Ziel – Abrechnung mit Billig, Banal, Blöd: https://www.klausschenck.de/ks/downloads/g75-2-endartikelsk-2.pdf
- Abschiedsrede vor dem Kollegium: „Zwischen Lehrerglück und Engagement-Tod“: ehrlich, persönlich, kritisch – ein Lehrerleben der Extreme: https://www.klausschenck.de/ks/downloads/g75-8-abschiedsredekollegium.pdf
- „Faule Säcke, werdet Lehrer!“ – Populismus gegen den Lehrerberuf durch das Kultusministerium: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/faule-saecke-aller-laender-werdet-lehrer-in-baden-wuerttemberg/
- Werbung für den Psychologie-Unterricht als Freiraum für junge Menschen – besonderer Schwerpunkt: „Magersucht + Essstörungen“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/werbung-fuer-den-psychologie-unterricht-als-freiraum-fuer-junge-menschen-besonderer-schwerpunkt-magersucht-essstoerungen/
- „Lehrerbuch“ als Hybrid-Lektüre (Printausgabe, Hörbuch und Internet): Klaus Schenck: „Vom Engagement-Lehrer zum Lehrer-Zombie“. Bange-Verlag, 16 € Mit diesem Buch schrieb ich mich in die Lebensfreude zurück, Flyer: https://www.klausschenck.de/ks/downloads/f02-buch-1.-flyer-ueberblick-internet.pdf oder als Animation: https://www.youtube.com/watch?v=woFEVPALHUQ
Materialien für Lehrer und Schüler
- Alle Abi-Materialien auf einen Blick: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/abi-vorbereitung/ , Rückmeldungen zu den Abi-Sendungen: https://www.klausschenck.de/ks/deutsch/index.html und Power-Paket für Abi-Kämpfer: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/gesamt-strategie-fuer-abi-kaempfer/
- Werbung für den Psychologie-Unterricht als Freiraum für junge Menschen – besonderer Schwerpunkt: „Magersucht + Essstörungen“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/werbung-fuer-den-psychologie-unterricht-als-freiraum-fuer-junge-menschen-besonderer-schwerpunkt-magersucht-essstoerungen/
- „Die Stillen in der Schule“ – Ermutigung + Strategien bei Introversion – zum Lesen, Ausdrucken und Anhören: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/die-stillen-in-der-schule-1-vom-glueck-der-introversion/
- „Jugend im Selbstspiegel“ – eigene Texte mit Zeichnungen, präsentiert in einer öffentlichen Lesung: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/der-mensch-mit-dem-schizophren-denkenden-herzen-und-der-verwirrten-seele/
- „Handy, Schule und unser Gehirn“, neurologisch-psychologische Forschungsergebnisse in Blick auf Handys und soziale Medien: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/alle-vorsaetze-sind-fuer-den-arsch-wenn-man-sich-nicht-daran-haelt/
- „Handyverbot an Schulen – und wir haben ein Problem weniger!“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/handyverbot-an-schulen/
- „Die Macht der Disziplin“ – diszipliniert → erfolgreicher, stressfreier und glücklicher: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/disziplin-erfolgsfaktor-in-der-schule-einfuehrung/
- „Schülerzeitungsermutigung“ (22 Artikel) – Rückblick, Tipps und Strategien für Schüler-Freiraum: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/redaktionsgroesse-zwei-pizza-regel/
- „Faule Säcke, werdet Lehrer!“ – billiger Populismus gegen den Lehrerberuf durchs Kultusministerium: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/faule-saecke-aller-laender-werdet-lehrer-in-baden-wuerttemberg/
Für 2025: Nicht piensen + klagen → anpacken + tun!
Für ukrainische Jugendliche habe ich meine Internetplattform zur Verfügung gestellt. Gleiches wollte ich jüdischen Jugendlichen anbieten und mailte alle jüdischen Gymnasien an – bis jetzt ohne Antwort. Mir wäre wichtig gewesen, jüdisches Leben in Deutschland sichtbar zu machen. Ich bereite für Oberstufenschüler kostenlos im Internet die aktuellen Deutsch-Abi-Werke vor, schreibe für das städtische Mitteilungsblatt und ein Infoblatt in Arosa und als Pressewart für unseren Tennisclub. Alles nichts Weltbewegendes, aber es ist ein konkretes Tun, ein konkretes Engagement, ein konkreter Dienst für andere. Das nimmt mir das sinnlose Grübeln, Ängstigen und Verzweifeln an einer Welt, der ich mich hilflos ausgeliefert fühle.
Für 2025: Vier Schritte: Träumen, Wollen, Tun, Bekommen!
Der „Wenn“ und der „Hätt“ henn noch nie was g´hätt.
Klaus Schenck
„Gebt nicht auf! Für den Triumph des Bösen braucht es nur eines – die Untätigkeit der Guten.“ (Nawalny)