„Die Stillen in der Schule“ – 3: Introversion – Vom Kind zum Lehrer

Liebe Schülerinnen und Schüler,

introvertierte Kinder bleiben introvertierte Erwachsene – auch als Lehrer unterscheiden sie sich von anderen und werden manchem fast schon zur lebenden Provokation, während die Introvertierten nur still in sich hinein seufzen: „Lasst uns doch einfach nur in Ruhe!“ Erst in diesem Artikel wurde mir der rote Faden der Introversion bewusst – im Rückblick auf Kindheit und Lehrberuf. Introvertierte Lehrer – sie nerven und bieten doch viel!

Früh übt sich, wer ein Schulmeister werden will – an seiner Schwester

Woran zeigte sich bei mir als Kind die Introversion? Ein bisschen langsamer, besonders in Alltagsdingen und in der Schule, ansonsten rennt man nicht mit einem „Intro-Schild“ herum: Achtung, Introversions-Kid, langsam sprechen! Nebenbei, ich selbst sprach eher altklug und ziemlich schnell. Vielleicht eine Besonderheit: Ich bin fernsehfrei aufgewachsen, mein Vater – trotz seiner Richtertätigkeit – nahm sich viel Zeit für mich. Meine Familie bot mir alle Möglichkeiten, die mir wichtig waren, also Anregung, Liebe und Geborgenheit. In der Außenwelt tobte ich mich voll Tatendrang, Ideen und Power aus – ich war voll engagiert im Tun, besonders im Sport, aber diese Außenwelt färbte innerlich kaum ab, schon gar nicht die Jugendwelt: Lehrer meine Gesprächspartner, Erwachsene meine Tennispartner und massenweise Briefe über Gott und die Welt – natürlich an Erwachsene. Ich hörte Beethoven und nicht Beatles. Ich liebte Vorträge und fremdelte bei Partys, dafür arbeitete ich in meiner Oberstufenzeit oft bis zu 2,5 Tage pro Woche mit 6-8 Terminen am Wochenende für die Zeitung. Die Lokalausgabe am Dienstag bestand teilweise fast nur aus meinen Artikeln.

„Psychologie Heute“, 07/2023, S. 94

Ich schrieb in meinem Leben Tausende Briefe, pro Woche oft sechs bis acht. Das geschriebene Wort war mir Heimat, in der sich – oft in Sprachbildern – meine exakte Beobachtung der Menschen entfaltete. Ich karikierte sie scharf mit dem Füller, nie mit dem Kugelschreiber. Sprachlos in fremder Umgebung, sprudelnd in vertrauter und eins mit mir im Schreiben. Diszipliniert, verlässlich, fleißig – die Idealbesetzung für die einen, der Totallangweiler für die anderen. Sympathien und Antipathien flogen mir fast gleichzeitig um die Ohren. An der Schule: „Entweder liebt man Schenck oder hasst man ihn!“ Die Fronten klar, die Antwort auf Rückfrage auch: „Sie sind anders!“, ständig gehört, aber nie hilfreich definiert – ein fettes Etikett: Achtung, schwieriger Typ, anspruchsvoller Lehrer, verhasster Kollegiums-Akkordbrecher! Introversion – in klaren Werten, in klar definierten Ansprüchen, in vollem Engagement für Schüler und Schule. Introversion gleich Anderssein, Baden in anderen Glücksteichen, Kommen aus einer anderen Welt! Introversion gleich Fremde – für mich und für die anderen!

Schule mit den Augen eines introvertierten Lehrers: Erste Stunde, „Deutsch“, 11. Klasse, dreißig Schüler. Mein Blick schweift die Reihen ab und bleibt bei einer Schülerin hängen. In dieser Sekunde leuchtet in mir auf: schreibt gute Aufsätze, nimmt Drogen, hat psychische Probleme. Sie schaut mich feindlich an, Disziplin-Typ ist nicht ihr Ding. Als Schülerzeitungs-Macher will ich sie natürlich in meiner Redaktion haben, ich bin ab dieser Sekunde felsenfest von ihr überzeugt, null Zweifel. Naive Theorie: Wer Drogen nimmt, liebt auch Räucherstäbchen. Zwei Wochen später gehe ich nach der Stunde auf sie zu, ihr Blick verfinstert sich gleich noch mehr, ich überreiche ihr einfach ein Räucherstäbchen von meiner Japan-Reise. Sie ist total überrascht, begeistert und strahlt mich an. Sie schreibt super Aufsätze, verfasst persönliche Gedichte, wird Chefredakteurin der Schülerzeitung und wir gestalten eine öffentliche Lyrik-Lesung. Auch die anderen zwei Punkte stimmten.

Schüler-Urteil im Fluss: Introvertierter Lehrer – komischer Kauz auf den ersten Blick, einfühlsamer Gesprächspartner auf den zweiten und überraschend wertgeschätzt auf den dritten.

Wenn ich etwas Schwieriges im Unterricht erklärte, schaute ich immer wieder in die Augen der Schüler. Und sah ich das Flackern des Unverständnisses, unterbrach ich den Unterricht, fragte den Schüler, was er denn nicht verstanden habe, erklärte es so lange, bis ein Strahlen sein Gesicht überzog und er sich bedankte. Ich hatte mich in der Einschätzung nie geirrt. Niemand wurde blamiert und alle profitierten von dieser Beobachtungs-Fähigkeit. Sogar in der Abi-Zeitung wurde das „Augen-Lesen“ erwähnt. Wir Introvertierten sind in vielem ein bisschen langsam, folglich auch verständnisvoll, wenn es nicht so schnell Klick macht. Das las sich nach drei Jahren Deutsch-Unterricht in vielen Schüler-Beurteilungen so: „Herr Schenck erklärt es so oft, bis der letzte Depp der Klasse es kapiert hat!

Wir Introvertierten als Lehrer sind natürlich nicht die coolen, beliebten und lockeren. Schüler-Sympathien kann man sich nicht „erleisten“. Mit der Zeit verlor das Kriterium „Schüler-Sympathie“ immer stärker an Bedeutung, an seine Stelle trat die Verantwortung für Abitur und späteres Studium junger Menschen. Als Introvertierter lebt man aus einer inneren Klarheit, vielleicht auch Lebens-Strenge, es ist die Einheit des Anspruches an sich und andere, und zwar stets hundert Prozent. Wir wissen, was wir tun, wir glauben, was wir tun, und wir leben, was wir tun, unabhängig von Schüler-Sympathie, Eltern-Einflussnahme und Kollegen-Kritik, letztendlich unabhängig vom Zeitgeist, wenn dieser den eigenen Werten zuwiderläuft, und wir werden so zu Vorbild und Widersacher, geliebt und gehasst, aber selten vergessen – ein Lehrer, der in die Entscheidung zwang.

Eingelesen auf YouTube (12 Min.): https://www.youtube.com/watch?v=xCkNe0SP7O4

„Die Stillen in der Schule – Introversion“

Artikel-Brief-Reihe: Manuskript und Link auf YouTube

  1. „Vom Glück der Introversion“: Manuskript: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/die-stillen-in-der-schule-1-vom-glueck-der-introversion/   und auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=HhRs9Qe_zCE   
  2. Introversion/Schüchternheit – Zwei Paar ‚Psycho-Stiefel‘“:  Manuskript: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/17492/ und auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=UAa1wxz7914  
  3. „Introversion – Vom Kind zum Lehrer“: Manuskript: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/die-stillen-in-der-schule-3-introversion-vom-kind-zum-lehrer/   und auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=xCkNe0SP7O4  
  4. Introversion – unsere Stärken“: Manuskript: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/die-stillen-in-der-schule-4-introversion-unsere-staerken/   und auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=afB4xyvfNOw
  5. Introversion – In der Schule – Tipps“: Manuskript: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/die-stillen-in-der-schule-5-introversion-in-der-schule-tipps/   und auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=UeauKeqwuAM

Zur Vertiefung für Interessierte:

Materialien für Lehrer und Schüler

Klaus Schenck, OSR. a.D.
Fächer: Deutsch, Religion, Psychologie
Drei Internet-Kanäle:
Schul-Material: www.KlausSchenck.de
Schüler-Artikel: www.schuelerzeitung-tbb.de
Schul-Sendungen: www.youtube.com/user/financialtaime
Trailer: Auf YouTube ansehen
„Vom Engagement-Lehrer zum Lehrer-Zombie“/Bange-Verlag 2020:
Info-Flyer: Download

Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

Weitere Artikel zum Thema